- Messe, Motette und Chanson im 15. und 16. Jahrhundert
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Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts entfaltete sich im Wesentlichen in den drei vokalen Gattungsbereichen Messe, Motette und weltliche Liedkunst sowie, zunehmend gegen Ende der Epoche, in einer Reihe instrumentaler Formen. Messe und Motette stehen dabei im Vordergrund, erst allmählich gelangten die französische Chanson, das italienische Madrigal und das polyphone deutsche Lied zu annähernd gleichrangiger Bedeutung.Das Neue der Musik ab etwa 1425 tritt zuerst in der Messe zentral in Erscheinung, und zwar in der Formgebung, in der Klanglichkeit und in der vokalen Gestaltung. Formengeschichtlich ist die zyklische Anlage der Messe das entscheidende Merkmal. Da die Teile des Messordinariums (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei) im Ablauf des Gottesdienstes nicht nebeneinander stehen, sondern durch andere Gesänge, Lesungen und Gebete getrennt sind, ist ihre zyklische Verbindung primär künstlerisch motiviert. Die frühesten Messzyklen stammen von den englischen Komponisten John Dunstable, John Benet und Lionel Power. Auf dem Kontinent übernahm Guillaume Dufay als erster diese englische Form der »Tenormesse«. In ihr wird ein »fremder« Cantus firmus, der also nicht dem Messrepertoire entstammt, allen Sätzen der Messe als gleich bleibender Tenor in langen Notenwerten zugrunde gelegt. Dufay verwendete, anders als die Engländer, auch weltliche, zum Teil populäre Liedvorlagen als Messtenor, wobei der tänzerische Charakter der Lieder durch Verbreiterung der Notenwerte ganz verloren geht.Den bis dahin vorherrschenden dreistimmigen Tonraum mit dem Tenor als tiefster Stimme erweiterte Dufay zum vierstimmigen Satz. Eine freie Bassstimme liegt nun unter dem Tenor, schafft eine echte Tiefenregion und wird durch grundtönige Führung zum Fundament der neuen Harmonik. Die vokale, fließende, konsonanzreiche Anlage der Oberstimmen ist ein weiteres Mittel der großflächigen, prächtigen Wirkung der Messzyklen Dufays, mit denen er eine Gattungstradition begründete, die fast 200 Jahre dauerte.In den Messkompositionen nach Dufay findet sich zunächst bei Ockeghem eine deutliche Vereinheitlichung des Satzbildes. Der Cantus firmus wird aufgelockert und den übrigen Stimmen angepasst. In vielen Fällen ist er auch nicht mehr an den Tenor gebunden, sondern wandert durch alle Stimmen. Außer Liedvorlagen wurden auch künstlich gebildete Cantus firmi benutzt, zum Beispiel eine Reihe von Tonsilben. Kanonkünste und komplizierte Mensurverhältnisse spielen gelegentlich eine Rolle. Doch überwiegt spätestens seit der Generation Josquin Desprez' das Bestreben nach Binnengliederung, klarer Durchimitation und Textverdeutlichung wie in der gleichzeitigen Motette. Josquin selbst hat in seinen 20 Messen die kompositorischen Möglichkeiten der Epoche umfassend zur Darstellung gebracht. Seine Alterswerke »De beata Virgine«, »Pange lingua« und »Da pacem« gehören zu den vollkommensten Messschöpfungen der Gattungsgeschichte.Seit dem frühen 16. Jahrhundert war die »Parodiemesse« eine weit verbreitete Form. Bei dieser liegt nicht eine einzelne Stimme, sondern der gesamte Satz einer Chanson oder eines Madrigals allen Teilen der Messe als Modell, das ergänzt und variiert wird, zugrunde. Um die gleiche Zeit wird mit der Erweiterung zur Fünf- und Sechsstimmigkeit ein immer stärkeres Streben nach volltönender, warmer Klanglichkeit sichtbar. Abschluss und Vollendung der Geschichte der Messe als vokaler polyphoner Kompositionsform bildet das Schaffen Palestrinas und seines römischen Umkreises. In Palestrinas Messkompositionen, für die er überwiegend geistliche Vorlagen benutzte, verwirklicht sich das Ideal der Kirchenmusik im Sinne der Forderungen des Konzils von Trient.Etwas anders als bei der Messe verläuft die Gattungsgeschichte der Motette im 15. und 16. Jahrhundert. Hier ist eine ältere, noch spätmittelalterlich bestimmte Tradition von der neueren Renaissancemotette zu unterscheiden. Daher bildet die Zeit um 1425 in der Motettengeschichte keine so markante Zäsur wie bei der Messkomposition. Nach dem Vorbild der Motette des 14. Jahrhunderts entstanden weiterhin repräsentative lateinische Vokalwerke in strenger isorhythmischer Anlage. In Dufays großen Tenormotetten der Reifezeit tritt die Isorhythmie zwar zurück, erhalten bleibt aber die bestimmende Funktion des Tenors als Klangachse und in vielen Fällen auch die Mehrtextigkeit. Wie in den Tenormessen erweiterte sich der Klangraum durch eine Harmonie tragende, freie Bassstimme. Diese Großform verlor am Ende der Dufay-Zeit jedoch an Bedeutung, und die Motette spielte eine Zeit lang insgesamt eine geringere Rolle. Erst in der dritten frankoflämischen Generation, zum Beispiel bei Josquin Desprez, wurde sie erneut, nun in gänzlich anderer Gestalt, zu einem zentralen Schaffensgebiet und mehr und mehr zur führenden musikalischen Gattung.Das Prinzip dieser neuen Art der Motette ist die abschnittweise Durchimitation. Das besagt, dass die Komposition den Sinnabschnitten des Textes folgt. Ein Textgedanke erhält ein Motiv, das in allen Stimmen durchgeführt wird und nach einem Binnenabschluss in einen neuen Abschnitt mit einem neuen Motiv mündet. Dieses Grundprinzip erlaubt zahlreiche aus ihm abgeleitete Satzstrukturen, zum Beispiel rasch sich folgende oder weit auseinander gezogene Imitationen, paarig wechselnde Stimmmeinsätze, imitatorische Duopassagen, Kanonbildungen, unterschiedliche Metren, flächig kontrastierende Klanggruppen und als vollkommenen Gegensatz homophone Partien an besonders hervorzuhebenden Stellen. Dadurch wird die Motette zu einem außerordentlich flexiblen Formmodell mit den mannigfachsten Möglichkeiten, die große Spannweite geistlicher lateinischer Texte in charakteristischer Weise zur Darstellung zu bringen.Die motettischen Gestaltungsprinzipien beeinflussten zunehmend auch den dritten Bereich frankoflämischen Komponierens, die weltliche Vokalmusik. Diese lässt sich jedoch nicht, wie Messe und Motette, als einheitliche Gattungsgeschichte darstellen; denn die Vertonung nationalsprachlicher Texte und die Bindung an unterschiedliche Lebensformen in Adel und Bürgertum führte zu Sonderentwicklungen in den einzelnen europäischen Ländern, zur französischen und niederländischen Chanson, zum italienischen Madrigal und zum deutschen Lied. Allen diesen Formen gemeinsam ist ihre Bestimmung für eine private, intime Aufführungssituation und ihr Charakter einer primär solistischen Liedkunst, oft mit Beteiligung von Instrumenten. Auch die rein instrumentale Ausführung sowie instrumentenspezifische Bearbeitungen, zum Beispiel für Laute oder Orgel, waren üblich.Die älteste weltliche Liedgattung ist die französische Chanson. Sie steht in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts noch in der Tradition des spätmittelalterlichen dreistimmigen Kantilenensatzes mit gesungener Oberstimme und zwei begleitenden Instrumenten. Ihre Melodik ist jedoch einfacher, liedhafter als vor 1400, und ihr Klang wird von der terzen- und sextenreichen neuen Konsonanzharmonik englischer Herkunft bestimmt. Führende Komponisten dieser feinsinnigen, höfisch orientierten burgundischen Chanson waren Gilles Binchois und Guillaume Dufay.Bei den Komponisten der folgenden Generation, unter ihnen Antoine Busnois und Johannes Ockeghem, wurde die Chanson unter dem Einfluss der Motette durch Imitationen angereichert, rhythmisch komplexer und kontrapunktisch dichter. Diese Entwicklung mündete in die Liedkunst der Josquin-Zeit. Die Vierstimmigkeit ist jetzt eher die Regel. Der Satz ist motettisch imitatorisch ganz durchgebildet, bleibt jedoch liedhaft in der Anlage und Motiverfindung bis hin zum Volkstümlichen und gewinnt seine Charakteristik aus dem Duktus der französischen Sprache.Eine besondere Form der französischen Chanson bildete sich im frühen 16. Jahrhundert in Paris. Der neue Notendruck - zum Beispiel die zahlreichen Ausgaben bei Pierre Attaingnant - machte solche Musik erstmals weiten Kreisen zugänglich. Die Texte waren meist anspruchslos, pointiert, aus Alltagssituationen gewonnen, auch humorvoll und derb bis zum Anzüglichen. Eine leichte, spritzige, beweglich der Sprache folgende Vertonung ließ daraus eine neuartige, außerordentlich beliebte Liedgattung entstehen. Besonders berühmt wurden die Programmchansons von Clément Janequin, die Vogelstimmen, Schreie der Marktfrauen oder Schlachtenlärm wirkungsvoll in einen virtuosen, klanglich vielfarbigen Vokalsatz umsetzten.Nach 1550 entwickelten sich in rascher Folge mehrere Spielarten der Chanson. Zunächst wurde das strophische, homophon syllabische Vaudeville, das auch einstimmig zur Laute vorgetragen werden konnte, zur verbreitetsten Form. Später entstand aus humanistisch literarischen Anregungen die antikisierende homorhythmische Chanson der »Musique mesurée«, ähnlich den strophischen Odenkompositionen für den Schulgesang in Deutschland, sowie die kunstvolle, dem Madrigal verwandte polyphone Chanson der späten frankoflämischen Komponisten, unter ihnen Jacob Arcadelt, Nicolaus Gombert und Orlando di Lasso.Prof. Dr. Peter SchnausBesseler, Heinrich: Die Musik des Mittelalters und der Renaissance. Lizenzausgabe Laaber 1979.Europäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter Schnaus. Mannheim u. a. 1990.Geschichte der Musik, herausgegeben von Alec Robertson und Denis Stevens. Band 2: Renaissance und Barock. Aus dem Englischen. Sonderausgabe Herrsching 1990.Die Musik in Geschichte und Gegenwart, begründet von Friedrich Blume. Herausgegeben von Ludwig Finscher. Auf 21 Bände berechnet. Kassel u. a. 21994 ff.Neues Handbuch der Musikwissenschaft, begründet von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. Band 3 und 4. Sonderausgabe Laaber 1996.
Universal-Lexikon. 2012.